Rinsdorf Erzähl doch mal von früher

Wie Lausbuben in den letzten Kriegswochen fast einen Hühnerstall erobert hätten.

Frühjahr 1945 in unserem Dorf: Von Westen rücken die Alliierten vor. Ihrer Übermacht hat die deutsche Wehrmacht wenig entgegenzusetzen und führt nur noch hier und da kurze Rückzugsgefechte. In den Dörfern tauchen deutsche Nachschubeinheiten, Artillerie und Panzer auf. Sie bleiben nicht lange, sondern ziehen rasch weiter. Wie auf der Flucht, lassen sie sogar Ausrüstung und Gerät zurück.
Nach Schulschluss untersucht die Dorfjugend all das, was nach dem Abzug zurückgeblieben ist. In einem schmalen Seitenweg steht ein Gefährt, das vorn die Räder eines Lastwagens hat und hinten Ketten wie ein Panzer. Kein Soldat mehr in der Nähe, alle sind schon talaufwärts abgezogen.
Die Schuljungen zögern nicht lange, klettern auf Fahrer- und Beifahrersitze, drehen am Lenkrad, spielen mit allen erreichbaren Hebeln, drücken auf Knöpfe und legen Schalter um. Irgendwie gelingt es ihnen, die Bremse zu lockern und den Anlasser zu erwischen, denn plötzlich macht das Fahrzeug einen Satz nach vorn, kracht in einen Zaun … und kommt knapp vor Eroberung des dahinter liegenden Hühnerstalls zum Stehen.
Für einen Angriff auf den Stall reicht die Kraft seiner Batterie nicht mehr aus.
Das tonnenschwere Gefährt ist wahrscheinlich mit eingelegtem Gang abgestellt worden, und eben das haben die aufgeweckten Jungen nicht bedacht. Nach einem zweiten Versuch, die Zündung zu betätigen, ist ihnen nicht mehr zumute.
So endet der Angriff im Zaun, ohne jede Beute. Die Hühnereier hätten einen Sturm auf den Stall höchstwahrscheinlich nicht unbeschadet überstanden, und das in alle Richtungen davonstiebende Hühnervolk ist selbst für flinke Lausbuben unerreichbar, wenn diese auf einem schwerfälligen Kettenfahrzeug anrücken.

Siebtklässler als Bombenentschärfer

Englische Flugzeuge haben bis in die letzten Kriegsmonate 80 Millionen Brandbomben auf deutsche Städte geworfen. Abertausende Häuser, ganze Straßenzüge, Stadtviertel und Innenstädte sind in Schutt und Asche versunken. Dörfer wie das unsere waren bisher kein Ziel, aber auch hier müssen die Menschen abends die Fenster verdunkeln.
Der Krieg dauert schon über fünf lange Jahre. Weil die meisten Männer weit weg an einer Front sind, müssen Kinder noch mehr helfen als vorher schon. Die alljährlichen Arbeiten auf Äckern und Wiesen und im Hauberg fordern auch ihre jungen Kräfte bis in den Herbst. Erst ab dem November haben die Schulkinder nach Unterricht und Hausaufgaben wieder freie Zeit.
Ein paar Jungen nutzen diese Nachmittagsstunden, um über Wiesen und Felder zu streifen. Sie sind fünf Minuten vom Jagdhaus entfernt, als in der Luft plötzlich Motoren dröhnen. Da gibt es kein Überlegen: Sofort hinter dem nächsten Gebüsch verschwinden und Ausschau halten.
Ein Pulk von Flugzeugen fliegt aus Richtung Wilgersdorf das Heckebachtal herunter, Bomber wahrscheinlich. Sie sind noch nicht ganz vorbei, als ein seltsames Zischen in der Luft zu hören ist. Sollten sie etwas abgeworfen haben, dann muss das in der Nähe heruntergekommen sein.
Natürlich wollen die Jungen es ganz genau wissen. In den Wiesen finden sie Metallstäbe in der Form sechseckiger Bleistifte, allerdings dick wie ein Handgelenk und einen halben Meter lang. Einige liegen im Gras, die meisten haben sich in den Wiesenboden gebohrt. Sogar Rauch steigt auf, als ob sie im Erdreich vor sich hin schwelen. Brandbomben werden es sein, das ist offensichtlich.
Wo sich der Rauch verzogen hat, sieht man zwei kurze, schmale Metallstreifen aus einem Loch ragen, mitten in der sechseckigen Oberseite.
Die Jungen finden eine Bombe, die flach auf dem Boden liegt. Mitten über ihren oberen Deckel ist ein Metallstreifen geklebt, der auch das Loch in dessen Mitte verdeckt. Nirgendwo sind Brandspuren zu sehen, also ist diese Brandbombe nicht abgebrannt. Der Zünder könnte sogar noch intakt sein, jedenfalls mit einiger Wahrscheinlichkeit.
Mit höchster Wahrscheinlichkeit gehen die daraus folgenden Überlegungen in eine verbotene Richtung. Die Siebtklässler überlegen nämlich, den Zünder dieser Brandbombe irgendwie auszulösen und sie dann abbrennen zu lassen. Das wäre dann ja nur eine Art, die Bombe unschädlich zu machen.
Diese Zünder funktionieren, wenn sie aus großer Höhe am Boden auftreffen. Ob es für eine Zündung genügt, wenn das gefährliche Stück von einem Baum fällt, das weiß keiner in der Runde so genau. Es käme auf einen Versuch an. Falls die Höhe nicht reicht um den Zündmechanismus in Gang zu setzen, dann ist dieser Blindgänger nach dem Versuch nicht gefährlicher als vorher.
Wo aber sollte ein solcher Versuch am besten durchgeführt werden?
Auf keinen Fall im Wald, denn Funken und Feuer im Wald, das gäbe Riesenärger, außerdem ist Waldboden weich, ebenso wie der Boden auf Wiesen und Äckern.
Die geteerte Landstraße ist fest, und Brandspuren lassen sich dort leicht mit einer Schicht Straßenstaub verwischen. Von einem Straßenbaum müsste die Bombe fallen. Da sind sich alle einig.
Einigkeit herrscht auch darüber, dass kein Erwachsener etwas sehen darf. Hundert Meter hinter der Weidekampkurve sind sie geschützt gegen Sicht aus dem Dorf. Auf der Straße selbst rollt in diesen Wochen so gut wie kein Fuhrwerk und erst recht kein Auto, und für den Ausnahmefall hätte man gute Ohren und schnelle Beine.
Soweit ihre Überlegungen, was man tun könnte und wie vorzugehen wäre.
Und dann stehen die jungen Planer vor einem dieser dicken Straßenbäume, deren unterste Äste mindestens vier Meter hoch über dem Boden ansetzen. Die Umsetzung ihres schönen Plans droht an einem leibhaftigen Straßenbaum zu scheitern.
Mit der Räuberleiter und einigen Schrammen an Armen und Beinen gelingt schließlich seine Bezwingung. Die etwa zwei Kilo schwere Brandbombe wird vorsichtig wie ein rohes Ei hinaufgereicht bis zu dem Kameraden auf dem ersten Seitenast, der ein Stück zur Straße hin ragt.
Die Beförderung einer scharfen Brandbombe von Hand zu Hand über eine Räuberleiter entspricht sicher nicht so ganz den militärischen Vorschriften. Auch sehen diese nicht vor, dass ein Siebtklässler mit einer solchen Bombe am gestreckten Arm vier Meter hoch auf dem Ast eines Straßenbaums hockt.
Erst wenn er das gefährliche Teil loslässt und es auf die Straße fällt, dann müsste er da oben einigermaßen in Sicherheit sein.
Seine Kameraden, mittlerweile auf dem Boden zurück, müssen mehr als vier Meter Abstand halten von der Stelle, wo die Bombe aufschlagen wird. Sie bewegen sich zwar zur Seite, aber nur nicht zu weit, denn jeder will unbedingt sehen, was nach der Zündung geschieht.
Dann steigt die Spannung. Der oberste Bombenentschärfer lässt die Brandbombe senkrecht nach unten fallen, sie prallt hart auf die Straße, und es geschieht … gar nichts.
Sollte der Zünder nicht funktionieren? War die Fallhöhe zu gering? Alle sind ratlos.
Eine halbe Minute später zischt ein heller Feuerstrahl heraus, Funken sprühen. Leicht vorstellbar, wie dadurch ihre Elternhäuser in Brand gesetzt würden, denn die Bomben sollten eigentlich auf das Dorf fallen.
Nach einer Weile geschieht sogar etwas, mit dem die Schuljungen nicht gerechnet haben: Plötzlich ein Knall, die Bombe explodiert. Zum Wegducken ist es zu spät.
Was keiner geahnt hat: In vielen Bomben sind zusätzlich Sprengladungen eingebaut, die gefährliche Metallsplitter enthalten wie Handgranaten. Diese Ladung explodiert erst einige Minuten nach Auslösung des Brandsatzes, weil die Splitter Feuerwehr oder Hausbewohner auf Abstand zur Bombe halten sollen, um frühzeitiges Löschen zu verhindern.
Wie durch ein Wunder ist keiner der Jungen verletzt, nicht einmal verräterische schwarze Spuren haben sie auf Haut oder Kleidung.
Unter diesen Umständen ist strengste Verschwiegenheit zu Hause und nach außen über dieses Vorkommnis selbstverständlich und Ehrensache.
Die überraschende Explosion hat die jungen Sprengmeister bis ins Mark erschreckt und sich tief ins Gedächtnis eingebrannt, vermutlich sogar lebenslang. Diese heftige Wirkung wäre selbst mit Strafen durch Erziehungsberechtigte, wie sie damals nach Untaten weithin üblich waren, nicht mehr zu steigern gewesen.
Weil alle Beteiligten sich für Geheimhaltung entschieden haben, müssen sie dieses gefährliche Erlebnis sogar ihren Klassenkameraden gegenüber verschweigen. Nicht einmal zur Abschreckung dürfen sie ihre neuen, unerwartet einprägsamen Erfahrungen weitergeben, obwohl doch damit sämtliche Dorfjungen leicht zu überzeugen wären, dass sie besser ihre Finger von Blindgängern lassen.

Luftkampf überm Dorf in den letzten Kriegsmonaten.

Hochbetrieb in einer Küche im Oberdorf. Die große Zinkwanne, in der sonst stark verschmutzte Wäsche eingeweicht wird, steht jetzt in der Küche, und auf dem Herd wartet ein Kessel mit warmem Wasser. Die samstägliche Säuberung dreier Jungen beginnt, denn alle sind im besonders schmutzanfälligen Alter zwischen zwei und acht Jahren.
Plötzlich hört man Motoren in der Luft – Gott sei Dank nicht das tiefe, gleichmäßige Brummen schwerer Bomber, sondern hellere Motoren. Sie werden lauter, dann leiser und bald wieder lauter. Den Ältesten hält es nicht in der Wanne, er wirft sich ein Hemd über, schlüpft rasch in seine Hose und läuft aus dem Haus, um besser zu sehen. Am Himmel über dem Dorf kreisen Flugzeuge, drei Maschinen sind es. Sie scheinen sich zu jagen, und aus ihren Bordkanonen wird geschossen.
Die Bahnen der Leuchtspurmunition zeigen, wer in welche Richtung und auf wen feuert. Es ist ein Kampf zwei gegen einen.
Jetzt verliert eine der Maschinen, eine deutsche, plötzlich an Höhe. Der Achtjährige hat große Angst, dass sie in sein Elternhaus oder das Nachbarhaus krachen wird. Sie streicht tief darüber hinweg, schafft es sogar über die Häuser der oberen Heipel und stürzt Sekunden später in den dahinter ansteigenden Wald. Der Pilot hat sich anscheinend gerettet, denn in der Luft schwebt ein Fallschirm.
In einiger Entfernung davon wird ein viertes Flugzeug beschossen, aus einer deutschen Flakstellung, vermutlich im Rärer Wald. Man sieht, dass die Maschine einen Treffer erhält. Sie fliegt weiter. Bald jedoch sind neue Fallschirme in der Luft, zuerst einer, dann zwei, drei, vier, fünf. Alle hintereinander. Ihre Anzahl deutet darauf hin, dass es sich um die Mannschaft eines feindlichen Bombers handeln muss, die da abgesprungen ist. Trotz des Treffers hält ihr Flugzeug sich noch waagerecht, fliegt Richtung Osten und verschwindet aus dem Blickfeld.
In der Nachbarschaft sammeln sich einige Männer des Volkssturms, Veteranen des letzten Kriegs. Sie wollen die feindlichen Soldaten nicht davonkommen lassen. Ihre Fallschirme wären ein leichtes Ziel, auf das man schießen könnte. Nachbarn versuchen, sie davon abzubringen, schlagen den Volkssturmleuten sogar auf ihre Gewehrläufe.
Inzwischen treibt der Wind die Fallschirme ab. Zumindest gefangen nehmen muss man die feindlichen Flieger, das sehen die Männer des Volkssturms als ihre Aufgabe. Uneinig sind sie nur, wo die Fallschirme landen werden. Einer vermutet links vom Tal, die anderen eher rechts davon. Schließlich eilen sie aus dem Dorf. Während sie links den Hang hinauf laufen, treibt der Wind die Bombermannschaft auf die andere Talseite ab, wo sie unbehelligt landen und sich verstecken wird. Die Polizei spürt sie in den folgenden Tagen auf und bringt sie in ein Gefangenenlager.
Der feindliche Bomber ist in fünf Kilometern Entfernung abgestürzt. Einige Schuljungen machen sich auf den Weg dorthin. Sie sehen ein auseinander gebrochenes Flugzeug, aber auch, dass darin ein Mann nicht überlebt hat. Vielleicht war es der Pilot, der die Maschine möglichst lange in der Luft halten und eine Notlandung versuchen wollte, nachdem alle seine Kameraden abgesprungen waren.
Das deutsche Flugzeug hat sich tief in den Waldboden gebohrt und ist nur noch Schrott. Später erfährt man, der Pilot sei mit dem Fallschirm an der Grenze zum Nachbardorf gelandet, leicht verletzt und mittlerweile genesen.
Ein damals elfjähriger Augenzeuge benötigt über 70 Jahre später nur zwei Minuten, um eine alte Schwimmweste vom Speicher zu holen und sie dem staunenden Zuhörer vorzulegen, samt angeschlossener Gaspatrone zum schnellen Aufblasen bei einer Notlandung im Wasser. Einzelne Aufschriften in englischer Sprache sind noch lesbar.
Gefunden wurde diese Ausrüstung bei der Haubergsarbeit in dem Gebiet, wo die Mannschaft des feindlichen Bombers mit ihren Fallschirmen gelandet war. Sogar eine Pistole lag damals in der Nähe.
Ein Großvater, der aus zwei langen Kriegen wusste, wozu Menschen fähig sind, hat die Waffe sofort im Waldboden vergraben, denn es war schon genug Unheil angerichtet worden.

Tieffliegerangriffe

Es ist das sechste Kriegsjahr, und auch in unserer Gegend sind Tiefflieger zur ständigen Gefahr geworden. Sie streichen niedrig über die Höhen, welche unser Dorf umgeben, tauchen wie aus dem Nichts über Baumwipfeln auf und schießen auf Menschen, die ihre Felder bestellen und für ihr tägliches Brot sorgen.
Auch bei der Waldarbeit ist in diesem Jahr niemand sicher, denn die Bäume tragen im März noch kein Blätterdach, unter dem man geschützt wäre gegen Sicht von oben. Aber die Dorfbewohner haben keine Wahl. Sie sind auf Brennholz angewiesen, seitdem die Bahnhöfe zerbombt sind und die Eisenbahn keine Kohlen und Briketts mehr herbeischaffen kann.

Seit Generationen schlagen die Familien ihr Holz im Genossenschaftswald (dem sogenannten Hauberg) und gehen sparsam damit um. Lediglich im Küchenherd flackert ein Feuer, denn wenigstens die Küche, wo sich Groß und Klein am Abend aufhalten, soll einigermaßen warm sein. Die Kühe bleiben in den Wintermonaten auch tagsüber im Stall und geben dort etwas Wärme ab, die den Menschen willkommen ist. Das Wohnzimmer als die gute Stube des Hauses wird nur an Weihnachten oder zu besonderen Anlässen geheizt, und das übrige Haus bleibt sowieso kalt. Innen an den Fensterscheiben der Schlafzimmer blühen nach bitterkalten Nächten die Eisblumen, deren weiße Blüten sich manchmal einige Tage halten.
Weil ständig Feuerholz im Herd gebraucht wird, kann die Holzarbeit nicht aufgeschoben werden. In diesem Jahr liegt das zum Schlag ausgewählte Stück Hauberg einen halben Kilometer talaufwärts, allzu weit muss das Werkzeug also nicht getragen werden.
In den Kriegszeiten mühen sich Frauen auch im Wald mit Arbeiten, die sonst ihre Männer erledigt haben, und die Schulkinder helfen dabei noch mehr als in Friedensjahren. Selbst die Kleineren gehen zur Hand.

Bei all der Arbeit in Wind und Wetter muss jeder stets auf der Hut sein vor Tieffliegern. Heute entdeckt ein Achtjähriger diese Maschinen, zwei davon fliegen das gegenüberliegende Seitental herunter, erstaunlich leise. Sie halten genau auf den Hang zu, wo die Menschen mit Beil und dem Knipp, einem Haumesser, am Werk sind. Der Junge schreit zu Mutter und Oma hinüber, die noch nichts zu bemerken scheinen. Er muss sie unbedingt warnen, läuft und springt einige Schritte auf sie zu und zeigt mit ausgestrecktem Arm auf die Gefahr.
Die Mutter schreit zurück, er solle stehen bleiben und sich ducken. Sie weiß, dass ihr Kind den Angreifern weniger auffällt, wenn es am Boden kauert und sich ruhig verhält. Und sie weiß, dass ihnen allen keine Zeit bleibt, um sich zu verstecken, denn diese schnellen und wendigen Flugzeuge kommen in jeder Sekunde fast 100 Meter näher, selbst wenn sie nur mit halber Höchstgeschwindigkeit angreifen. Jedes Mal ist es ein Überfall.
Die Menschen hören das Rattern der Maschinengewehre über sich, hoffen und beten, dass sie nicht getroffen werden. Sekunden werden zu Minuten.

Nach den Schüssen ist es totenstill. Vorsichtig schauen die Menschen sich um. Wie es scheint, haben alle den Angriff überstanden, und alle unverletzt. Einen Steinwurf entfernt hat sich eine Mutter auf den Boden geworfen und Reisigbündel, sogenannte Schanzen über sich gezogen. Ihr elfjähriger Sohn sollte nach Schulschluss kommen und helfen. Jetzt ängstigt sie sich um ihr Kind, es müsste unterwegs sein, eigentlich schon hier sein … und das Kind wird nicht weniger um seine Mutter bangen, wenn es die Tiefflieger sieht.
Die Gefahr ist noch nicht vorbei. Die Menschen wissen aus Erfahrung, dass diese Maschinen eine Schleife fliegen und danach aus anderer Richtung wieder auftauchen.
Bis dahin muss jeder die knappe Zeit nutzen, um vor dem zweiten Angriff Schutz zu suchen. Einige laufen zu vereinzelten Samenbirken und verstecken sich dort hinter den Schanzen, die sie vorher aufrecht um den Stamm gestellt haben. Diese halten zwar keine Kugeln ab, verbergen aber die Menschen besser als nackte Baumstämme.
Wer junge Beine hat, rennt in den benachbarten Fichtenwald, der am besten vor Entdeckung schützt.
Dann kommen die Angreifer wieder. Schon im ersten Anflug muss den Piloten klar gewesen sein, dass sie hier keine militärischen Ziele vor sich haben. Wieder ducken sich die Menschen vor den Fliegern, sehen bei angehaltenem Atem die Erde aufspritzen, wo die Geschosse in den Boden einschlagen und fürchten um ihr Leben, wenn die Einschläge näherkommen.

Mit vier Maschinengewehren aus einem Flugzeug auf wehrlose Frauen und Kinder am Boden zu schießen, ist alles andere als eine Heldentat. Das Kriegsvölkerrecht gebietet, solche Verbrechen zu bestrafen. Vorher aber muss man die Täter finden – und das ist aussichtslos in diesem Krieg.
Wenn Vorgesetzte die Rechtsverstöße ihrer Untergebenen erklären müssen, reden sie gern von eigenmächtigem Vorgehen vereinzelter schwarzer Schafe. Die Menschen in unserer Gegend aber sehen diese sogenannten einzelnen schwarze Schafe immer im Pulk angreifen. Anscheinend sind sie sicher, dass niemand ihnen etwas anhaben kann. Als ob sie wüssten, dass nach Kriegsende die Sieger anderes im Sinn haben als den Beschwerden der Verlierer nachzugehen und gegen die eigenen Soldaten zu ermitteln.
An einem anderen Tag entdecken die schwarzen Schafe ein Milchfuhrwerk auf der Landstraße, zwei Kilometer außerhalb unseres Dorfes. Durch das Pferdegetrappel und das Knirschen der Räder hört der Mann auf dem Kutschbock die beiden Flugzeuge wahrscheinlich zu spät. Er findet keine Zeit mehr, sein Fuhrwerk anzuhalten und abzuspringen. Die Straßenbäume geben ihm nicht ausreichend Schutz, die Maschinengewehrsalven aus der Luft treffen den älteren Mann aus dem Nachbardorf tödlich.
Die Piloten brüsten sich nach der Rückkehr vom Feindeinsatz vermutlich damit, ein feindliches Fahrzeug samt Besatzung vernichtet zu haben. Dass es ein mit Milchkannen beladenes Pferdefuhrwerk war und der Kutscher kein Soldat, das sind Einzelheiten, die in ihrem schriftlichen Bericht leicht verschwiegen werden können. In den Akten wäre alles jahrelang nachzulesen und könnte womöglich noch Unannehmlichkeiten nach sich ziehen.

Von diesen schießwütigen Fliegern unterscheiden sich die später in unser Dorf einrückenden Bodentruppen sehr wohltuend. Besonders die Farbigen unter ihnen sind kinderlieb, verschenken Kaugummi und Schokolade an die Dorfjugend. Einer von ihnen rettet einem Kind das Leben, das ahnungslos auf der Straße spielt. Unter eigener Lebensgefahr springt er zu ihm und bringt es in Sicherheit, bevor Sekunden später eine deutsche Artilleriegranate einschlägt, abgefeuert auf feindliche Soldaten.

Jugend forscht – in unserem Dorf bereits vor Generationen

Nachdem die ersten amerikanischen Soldaten in Panzern angerollt sind und das Dorf kampflos eingenommen haben, gibt es mehr als genug für neugierige Dorfjungen, um sich damit zu befassen. Zum Beispiel die neue amerikanische Artilleriestellung, in deren Nähe gleich säckeweise Pulver gestapelt liegt. Pulver, das Siebtklässlern ungeahnte Möglichkeiten eröffnen würde … wenn sie nur etwas davon in die Hände bekämen.
Aber das ist und bleibt ein Wunschtraum, vorerst jedenfalls. Wenn das Donnern der beiden Geschütze einmal für eine Stunde schweigt, halten sich die fremden Soldaten doch stets in der Nähe auf.
Nach einer Woche ist aus dem Tal zu sehen, wie neben der Stellung plötzlich hohe Stichflammen in die Luft schießen. Ein Unglück? Irgendjemand weiß, dass die Soldaten vorher Pulver in Erdlöcher geschüttet und es dann gezündet haben. Demzufolge war es kein Unfall, sondern man hat das wertvolle Material nutzlos verpuffen lassen, und die Geschütze sind auch abgezogen.
Unter all dem, was die Amerikaner zurückgelassen haben, könnten noch Pulverreste schlummern. Genau das wollen einige Siebtklässler überprüfen, bevor sich dort vorwitzige jüngere Schulbuben möglicherweise in Gefahr bringen. Es wäre unverzeihlich, nichts gegen diese Gefahr zu unternehmen. Sobald die Luft rein ist, beginnen sie mit der Nachforschung und stoßen auf seltsame kleine Röllchen aus weißlichem Material, das wie Horn wirkt.
Ein kurzer Versuch mit wenigen Gramm davon bringt Klarheit. Das Zeug verbrennt schlagartig mit heller Flamme, sobald es mit einer Lunte in Berührung kommt. Seine seltsame Form rührt vielleicht daher, dass es der Artillerie als Zünder dient. Den jungen Bastlern erscheint es jedenfalls brauchbar für ihre Zwecke. Nun benötigen sie noch eine Art Flugkörper aus Metall mit dickwandiger Brennkammer und einer Öffnung an der Unterseite.
In diesen schwierigen Zeiten behilft man sich selbstverständlich mit gebrauchten Teilen. Leere US-Konservendosen sind jedoch zu leicht, ihr Blech zu dünn, und aufgrund ihrer Form lägen sie nicht ruhig in der Luft. Selbst unvorhersehbare Änderungen der Flugrichtung wären zu befürchten. Aus festerem Metall muss das Teil sein, von länglicher Form, oben natürlich geschlossen, unten offen und möglichst rundum verengt.
Was diesen Anforderungen am nächsten kommt, sind auf den Kopf gestellte, leere Patronen von Geschossen. Allerdings müssten sie größer sein als die üblichen Gewehrpatronen, damit mehr Pulver hineinpasst. Geeignet wären die Patronenhülsen aus den Maschinenkanonen der Tiefflieger, die zu Dutzenden im Hauberg zwischen frisch geschlagenem Holz liegen.
So mancher Schuljunge hat schon diese leere Hülsen aufgesammelt, und es stellt sich heraus, dass sie fünf Mal so viel Pulver fassen wie die Patronen für Infanteriegewehre.
Die findigen Burschen sehen vor ihrem geistigen Auge schon eine neuartige Antriebsstufe für Flugkörper, deren Herstellung sogar mit beschränkten Mitteln möglich ist.
Ein Schuppen mit den verschiendensten landwirtschaftlichen Geräten hält allerlei Verstecke bereit. Wenn er wie in diesem Fall unmittelbar neben einem elterlichen Wohnhaus steht, ist er für die Lagerung von Zündsätzen aus einer Artilleriestellung eigentlich nur bedingt geeignet. Zur angrenzenden Waschküche jedenfalls muss weitestmöglicher Abstand gehalten werden, weil unter dem großen Waschkessel jede Woche ein offenes Feuer bullert.
Sämtliche Arbeiten von der Verformung der Metallhülsen bis zur Einfüllung des Brennstoffs wollen die jungen Forscher im Schuppen ausführen, denn das Dach schützt vor Regen, und vor allem ist Vaters Werkzeugkiste in greifbarer Nähe.
Die Nähe der Erziehungsberechtigten allerdings wird man in Kauf nehmen müssen. Immerhin haben diese noch kein Verbot ausgesprochen für das, was hier vor sich gehen soll, wahrscheinlich einzig aus dem Grund, weil es ihre Vorstellungskraft übersteigt und damit jenseits aller elterlichen Befürchtungen liegt.
Selbstverständlich werden die bestehenden Verbote und Abstandsregeln zu Fliegerbomben peinlich genau eingehalten. Weit und breit ist nämlich keine einzige Bombe zu sehen, als die Siebtklässler darangehen, die Öffnung einer leeren Geschosspatrone mit einem Hammer zu bearbeiten und gleichmäßig zu verengen, um den Auspressdruck der Pulvergase und damit ihren Schub zu erhöhen. Als sie den geheimnisvollen Festbrennstoff einfüllen, bringt sich kurzzeitig das unvergessliche Abenteuer ihrer Bombenentschärfung in Erinnerung. Die Schrecken der damaligen Explosion hemmen aber letztlich den Tatendrang nicht dauerhaft. Ihr Forschertrieb ist zu stark und bricht sich Bahn. Außerdem wissen die Jungen dass hier kein versteckter Sprengstoff Dutzende Metallsplitter in alle Richtungen zu schießen droht wie bei einer Brandbombe. Auch lauert keine Gefahr durch einen unberechenbaren, unsichtbar ablaufenden zweiten Zündvorgang, sondern hier soll die seit Jahrhunderten übliche und über Generationen von Artilleristen bewährte Lunte verwendet werden.
Aus Sicht der Erziehungsberechtigten bieten Schuljungen, die sich in einem Schuppen handwerklich betätigen, nicht von vornherein Anlass zum Argwohn. Selbst zeitweises Hämmern muss Erwachsene nicht unbedingt beunruhigen. Im Gegenteil wird gern und wohlwollend zur Kenntnis genommen, dass Jungen mit Eifer, Zielstrebigkeit und Ausdauer werkeln, was manche ihrer Lehrer sicher auch bei den Hausaufgaben für wünschenswert hielten.
Die Bastler selbst bemühen sich, dieses Vertrauen zu rechtfertigen. Unter anderem stellen sie den mit Wasser gefüllten Putzeimer griffbereit in die Nähe für eventuelle Löscharbeiten und hoffen, dass die Mutter ihn nicht vermisst. Außerdem achten sie auf einige Meter Abstand zwischen Wohnhaus und Startplatz, der hinter einer Ansammlung landwirtschaftlichen Geräts im Freien gegen Sicht getarnt ist. Dort lehnt die ehemalige Patrone, jetzt zum Fluggerät umgebaut, behutsam an einer in den Boden gesteckten Astgabel. Und immer noch ahnt nebenan im Haus niemand, was hier vor sich geht.
Schließlich wird die Lunte angezündet. Ihre Flammen züngeln unter der Patrone. Die Spannung steigt.
Zischend hebt das Fluggerät ab, steigt, einen hellen Feuerstrahl hinter sich herziehend in die Luft, überwindet dabei den Dorfbach, und geht nach einigen Sekunden lautlos zwischen den Nachbarhäusern nieder.
Genaugenommen war es eine Landung im Gemüsegarten. Dennoch schlagen die jungen Forscher sich begeistert auf die Schulter. Der Antrieb hat funktioniert, der Jungfernflug ist erfolgreich verlaufen. 
In der Nachbesprechung wird jedoch bemängelt, dass die Flugbahn leicht von der vorgegebenen Richtung abgewichen ist. Ursache war vermutlich die etwas ungleichmäßig verengte Austrittsöffnung für die verbrannten Pulvergase.
Mit Werkzeugen eines Grobschmieds kann verständlicherweise niemand Millimeterarbeit leisten. Für Versuche mit größerer Flugweite müsste die Verengung der Austrittsöffnung jedoch so exakt ausgeführt werden, dass die Verbrennungs- und Antriebsgase genau in der Mitte unter dem Schwerpunkt des Flugkörpers ausströmen. Zur Sicherheit wäre auch ein Leitwerk sinnvoll, andernfalls könnte es auf längeren Flugbahnen zu stärkeren Abweichungen nach links oder rechts kommen, und selbst das Trudeln des Flugkörpers wäre nicht auszuschließen. 
Für die angestrebten Versuche mit größerem Kaliber wird eine mobile Startrampe erforderlich, bestehend aus gerade gewachsenen Stämmen eines Haselstrauchs als Führungsschienen, um die Flugrichtung besser vorgeben zu können.

Einer der damaligen jungen Forscher zeigt sich noch im gesetzten Großvateralter felsenfest überzeugt von ihrer seinerzeit entwickelten neuen Technik. Vor allem lobt er die hervorragende Beschleunigung der Flugkörper: „Die gonge aaf! Die gonge aaf!!

Die Patentanmeldung dieses neuartigen Antriebs musste leider unterbleiben. Grund dafür war wieder einmal die leidige Geheimhaltung, denn Eltern waren damals nicht kleinlich mit empfindlichen Strafen, wenn sie diese für unerlässlich hielten.
Außerdem erforderte die Beantragung eines Patents früher schon umfangreiche schriftliche Unterlagen. Auf Unterstützung durch Lehrer war hierbei nicht zu hoffen, weil diesen dann vor allem ein Licht aufgegangen wäre, was ihre Knaben so alles getrieben haben in der Zeit, als sie eigentlich Hausaufgaben erledigen sollten.

Wir interviewen derzeit einige der ältesten noch lebenden Rinsdorfer zum Thema „Kinder- und Jugendzeit“. Dabei sind, wie ihr schon sehen könnt, einige interessante Geschichten herausgekommen. Ein paar dieser Abenteuergeschichten aus der Kindheit sind noch in Vorbereitung. Schaut in Kürze nochmal vorbei…

Wenn ihr selbst oder eure Eltern/Großeltern ähnliche Geschichten, idealerweise mit Bezug zu Rinsdorf, beisteuern könnt, immer her damit!

Friedhelm Braun 20.02.2024